Nach meinem Blick auf den AI Continent Action Plan der EU-Kommission, welcher darauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union im Bereich der Künstlichen Intelligenz zu stärken, möchte ich heute einen Einblick in die Anstrengungen Deutschlands und Frankreichs im Bereich der KI geben. Die Aktivitäten komplementieren jene der EU, verfolgen aber auch eigene Akzente, um eine hohe KI-Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen und damit den Rückstand gegenüber den USA, aber auch China, aufzuholen.
Inhaltsverzeichnis
Anforderungen an die Analyse
Für diesen Vergleich wurden folgende Kriterien betrachtet:
- Die Verfügbarkeit großer Rechenzentren mit zehntausenden GPUs als wesentlicher Einflussfaktor auf KI-Rechenoperationen.
- Die Ambition eines Landes, einen leistungsstarken KI-Standort anzubieten.
- Die Anbieter von LLMs (Large Language Models), die einen Bedarf an Hochleistungsrechenzentren haben.
- Die vorhandene Infrastruktur mit schnellen Internetknotenpunkten sowie günstiger Energie für Cloud Services und Rechenzentren.
- Das Vorhandensein CO₂-armer Energie (Dekarbonisierung) unter anderem in Verbindung mit der EU-Taxonomie für nachhaltiges Wirtschaften.
Weiterführend lassen sich aus diesen Kriterien insgesamt fünf Standortfaktoren ableiten. Diese erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ein Blogbeitrag kann auch keine vollständige Studie mit Erörterungen ersetzen. Gleichwohl soll die Gegenüberstellung eine grundsätzliche Einschätzung des KI-Reifegrades der beiden Länder in Bezug auf das Aufholpotenzial gegenüber den USA ermöglichen.
Standortfaktor 1: Der Aufbau einer EU-geförderten Gigafactory
Auf dem vielbeachteten AI Summit in Paris im Februar 2025 gab EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Ausblick auf die nächste Leistungsstufe: die AI-Gigafactory. Bereits in der EU-Initiative im Rahmen des AI Continent Action Plan hatten zahlreiche Länder ihre Absichtserklärungen für den Bau mehrerer AI Factories, die insbesondere auch KMUs zur Verfügung stehen sollen, abgegeben. Während die AI Factories mit bis zu 25.000 GPUs (Grafikprozessoren) ausgestattet werden, sollen die AI-Gigafactories bis zu 100.000 GPUs umfassen.
Die EU will über ein Ausschreibungsverfahren eine Unterstützung von insgesamt bis zu 20 Milliarden Euro für die Förderung von bis zu fünf Gigafactories beisteuern, die generell über ein PPP-Modell (Public Private Partnership) finanziert werden sollen. Hierbei handelt es sich – ähnlich wie bei etlichen Fördermaßnahmen im Umfeld des Europäischen Sozialfonds (ESF) – um ein zweistufiges Verfahren. Innerhalb der ersten Phase erfolgen Interessensbekundungen aus den jeweiligen Ländern der EU, mit einer – im positiven Falle – Bestätigung für die Möglichkeit der Teilnahme am eigentlichen Antragsverfahren im zweiten Schritt.
Der Abgabetermin für die erste Phase der Interessenbekundung war am 20. Juni 2025 und in den deutschen Medien wurde mit Interesse berichtet, welche Bieter(konsortien) sich an diesem Verfahren beteiligen. Bekannt wurden u.a. Verfahrensbeteiligungen von Deutsche Telekom, Schwarz-Gruppe, Ionos/Hochtief sowie dem Freistaat Bayern.
Während es in Deutschland nicht gelang, ein gemeinsames Konsortium zu bilden, das die Kräfte auf nationaler Ebene bündelt, konnte dieses Ziel in Frankreich erreicht werden: Unter Leitung des Cloud-Unternehmens Scaleway, einer Tochterfirma des französischen Mobilfunkanbieters Iliad, hat sich ein Konsortium privater, öffentlicher sowie akademischer Träger unter dem Namen AION zusammengeschlossen. Scaleway beteiligt sich auch mit über 3 Mrd. Euro an der Finanzierung der 109 Mrd. Euro Investitionen in die KI in Frankreich, dazu später mehr.
Aus EU-Perspektive ist es wesentlich, wie schnell diese Gigafactories aufgebaut werden können. Die eigentliche Antragsphase soll nach aktuellem Stand erst im vierten Quartal 2025 beginnen. Die Wettbewerber aus den USA wie das LLM-Modell Grok werden heute bereits in Rechenzentren mit 100.000 GPUs betrieben.
Neben Deutschland und Frankreich sind auch aus den Niederlanden, Österreich, Polen und Spanien Bewerbungen bekannt. Aus innerdeutscher Perspektive wird es interessant sein, zu beobachten, welche der Interessenbekundungen für das eigentliche Antragsverfahren zugelassen werden.
Beide Länder beteiligen sich an der Ausschreibung der Europäischen Union, sodass hier kein Bewertungsunterschied vorliegt.
Jeweils 1 Punkt für Frankreich und für Deutschland – 1:1
Standortfaktor 2: Politische Unterstützung für mehr KI-Souveränität
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat den Aufbau von Frankreich zur führenden KI-Nation in Europa zur „Präsidentensache“ erklärt. Auf dem AI Summit im Februar 2025 in Paris verkündete er, dass Frankreich 109 Mrd. EUR in die KI investieren werde, unterstützt durch zahlreiche Investitionszusagen auch außerhalb von Europa. Zu den Investoren außerhalb der EU zählen bspw. die KI-Cloud-Plattform Fluidstack aus dem Vereinigten Königreich mit 10 Mrd. Euro, aber auch die kanadische Investmentgesellschaft Brookfield mit 20 Mrd. Euro bis 2030, davon 15 Mrd. in Rechenzentren in Frankreich.
Auch im Bereich der nationalen Souveränitätsstrategie bringt sich der Elysée-Palast mit Nachdruck ein: Die Ausstattung eines neuen Rechenzentrums für Mistral mit 18.000 GPUs der neuesten Generation – bereitgestellt vom Chip-Weltmarktführer Nvidia – wurde durch den Präsidenten auf der Vivatech per Handschlag besiegelt. Mistral feiert diese Übereinkunft als einen Meilenstein der Unabhängigkeit gegenüber amerikanischen Cloud-Providern, weil Hosting und Management der KI-Services vollständig auf nationaler Ebene erfolgen.
Im Rahmen seines Europa-Aufenthaltes kam es auch zu einem Gespräch des Nvidia-CEOs mit dem deutschen Bundeskanzler. Dort wurde seitens der Bundesregierung verlautbart, zusammen mit deutschen Partnerunternehmen ein Rechenzentrum mit bis zu 10.000 GPUs zu bauen.
Doch während Emmanuel Macron Frankreich durch eine Politik, die auf Aufschwung durch Innovation setzt, als führende KI-Nation in Europa platzieren will, ist im Koalitionsvertrag der deutschen Regierungsparteien keine eigenständige KI-Strategie zu erkennen: An etlichen Stellen geht der Koalitionsvertrag nicht darüber hinaus, was der EU AI Act sowieso fordert, wie bspw. das Anbieten von Reallaboren für Start-ups. Zudem ist KI eingebettet in andere Spitzentechnologien wie Quanten, Photonik sowie Mikro- und Nanoelektronik. Ein Gestaltungsanspruch ist für mich aus diesem Koalitionsvertrag nicht ersichtlich. Das Thema wird letztlich als eines unter vielen abgehandelt.
Die politische Unterstützung für eine KI-Leader-Strategie ist in Frankreich deutlich erkennbarer. Dies wird augenscheinlich auch im Ausland so gesehen, was sich an den privaten Investoren des 109-Milliarden-Euro-Paketes vom AI Summit im Februar 2025 zeigt.
Punkt für Frankreich – 2:1
Standortfaktor 3: Nationale Champions im Bereich der LLM-Models
Gegründet im Jahr 2023, hat das französische KI-Unternehmen Mistral in etwas mehr als zwei Jahren einen Marktwert von mehreren Milliarden Euro erreicht. Die Strategie, etliche Modelle auch als Open Source zur Verfügung zu stellen, hat die Nachfrage nach Mistral-Modellen ebenfalls unterstützt. In Deutschland ist mir Stand heute kein Anbieter eines LLM-Modells bekannt, der sein Modell niederschwellig auch in Open-Source-Editionen Kunden anbietet.
In den meisten Benchmarks wie MMLU Pro (Sprachverständnis, logisches Denken, interdisziplinäre Fachkompetenz), Math500 (Aufgaben in verschiedenen mathematischen Teildisziplinen wie Algebra, Analysis …) oder LiveCodeBench (Bewertung der Programmierfähigkeiten) kann Mistral mit Marktführern wie ChatGPT, Claude, Gemini und Grok konkurrieren, deren Niveau aber noch nicht ganz erreichen.
Mistral profitiert aktuell vom Alleinstellungsmerkmal des europäischen LLMs schlechthin, erfreut sich nach eigenen Angaben einer sehr hohen Nachfrage und bittet aktuell um Verständnis für längere Antwortzeiten auf Anfragen.

Frankreich und Deutschland buhlen um Europas KI-Spitzenplatz – doch wer hat die Nase vorn?
Frankreich liegt im Vergleich der nationalen Champions gegenüber Deutschland klar vorne. Erstrebenswert ist eine gezielte Start-up-Förderung für ein LLM-Modell aus Deutschland oder ein Joint Venture zwischen Frankreich und Deutschland, wie in anderen Industriebereichen.
Punkt für Frankreich – 3:1
Standortfaktor 4: Die Verfügbarkeit von Rechenzentren und günstiger Energie
Für die Frage, welche Standorte führende Internet-Hubs sind, gibt es keine vollständig einheitlichen Kriterien. Der amerikanische Anbieter Telegeography erstellt solche Rankings seit vielen Jahren und ist eine relevante Quelle für die Beobachtung überjähriger Entwicklungen. Während Frankfurt in diesem Ranking den ersten Platz belegt und Paris den fünften, fällt auf, dass Marseille sich seit Jahren kontinuierlich im Ranking nach oben arbeitet. Belegte Marseille vor elf Jahren noch einen Platz jenseits der 40, hat die „älteste Stadt Frankreichs“ zuletzt Hongkong von Platz sechs verdrängt.
Wesentlicher Grund für die Investitionsfreude in Marseille ist die hohe Zahl von interkontinentalen Unterseekabeln, so dass in den letzten zehn Jahren vier große Rechenzentren (MRS1 – MRS4) in dieser Mittelmeermetropole errichtet wurden und zwei sich derzeit im Bau befinden (MRS5, MRS6).
Frankreich plant, bis 2030/2031 insgesamt 35 neue große Rechenzentren zu errichten, aber auch in Deutschland finden insbesondere durch privatwirtschaftliches Engagement amerikanischer Unternehmen (Google, Microsoft) wie auch starker lokaler Anbieter (siehe die Bewerber für den Aufbau einer Gigafactory) große Investitionen in Rechenzentren statt.
Auch die Verfügbarkeit von billiger Energie ist ein entscheidender Standortfaktor und keinesfalls zu unterschätzen: Insbesondere beim hohen Strombedarf von leistungsstarken AI-Factories hat Frankreich einen großen Vorteil: billiger Atomstrom und eine konstante Netzstabilität. Währenddessen liegt Deutschland bei den Kosten für die Bereitstellung einer Kilowattstunde für die Industrieproduktion in Europa in der Spitzengruppe.
Bedingt durch die Vorteile durch seine günstige Atomenergie, was im laufenden Betrieb schnell zum Faktor werden wird, liegt Frankreich in dieser Kategorie leicht vorne.
Punkt für Frankreich – 4:1
Standortfaktor 5: CO₂-armer Rechenzentrumsbetrieb
Dekarbonisierte Energie spielt angesichts der Klimaerwärmung durch das starke Wachstum der Treibhausgase eine immer stärkere Rolle. Der Betrieb von Industrieanlagen ohne dekarbonisierte Energie wird über die negativen Umweltfolgen hinaus auch in den kommenden Jahren durch den EU-Emissionshandel immer teurer werden.
Für die kanadische Investmentgesellschaft Brookfield war die dauerhafte Sicherstellung eines CO₂-armen Rechenzentrumsbetriebs ein mitentscheidender Investitionsfaktor. „Frankreich verfügt über hervorragende technische Kompetenzen für diese Art von Anlagen. Es ist heute das Land in Europa, das sich am lautesten für den Bau dieser Infrastrukturen einsetzt, und es profitiert von sauberer Energie, insbesondere dank der Kernkraft“, so Sikander Rashid, Europadirektor von Brookfield [Zitat wurde übersetzt mit DeepL, Link zur Originalquelle].
Der französische Staatspräsident stellte im Interview mit dem öffentlichen Sender France 2 am 09.02.2025 Frankreich als eines der Länder mit dem höchsten Anteil an dekarbonisierter Energie dar, was ein außergewöhnlicher Wettbewerbsvorteil für Frankreich ist. Die Entscheidung Deutschlands, als erstes CO₂-arme Kernkraftwerke statt CO₂-emittierende Kohlekraftwerke stillzulegen, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, da dies eine primär gesellschaftliche und politische Fragestellung ist. Fakt ist, dass im Vergleich zu Deutschland die CO₂-Emissionen in Frankreich im Pro-Kopf-Vergleich über 60 Prozent niedriger sind (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2023).
Abschließend ergänzt sei noch der Hinweis, dass mit der delegierten Verordnung 2022/1014 der EU-Kommission, die vom EU-Parlament nicht wirksam abgelehnt wurde, auch die Kernkraft unter bestimmten Bedingungen unter die EU-Taxonomie fällt und damit Zugang zum grünen Kapitalmarkt besitzt. Dies gilt insbesondere für Kernkraftwerke der neuesten Generation III+, die nun als „nachhaltige“ Investitionen vermarktet werden können. Damit eröffnet sich der Zugang zu Investoren, die ausschließlich in ESG (Environmental, Social, Governance)-Projekte investieren dürfen. Auch Gaskraftwerke können unter bestimmten Umständen als Taxonomie-konform bewertet werden. Zum jetzigen Zeitpunkt liegen aber noch keine hinreichenden Informationen vor, wann das erste Gaskraftwerk in Deutschland die EU-Taxonomie erfüllt.
Das große Angebot an dekarbonisierter Energie ist eines der Hauptargumente für den Standort Frankreich und wird regelmäßig von französischen Spitzenpolitikern wiederholt und mit Nachdruck kommuniziert.
Punkt für Frankreich – 5:1
Fazit: Klarer Punktsieg für Frankreich
Das Ergebnis mag auf den ersten Blick überraschen. Deutschland liegt im Bruttoinlandsprodukt (BIP) bzw. bei seiner wirtschaftlichen Leistungskraft deutlich vor Frankreich, doch im Kampf um Europas KI-Spitzenplatz scheint die „Grande Nation“ der BRD zunehmend den Rang abzulaufen.
Im Bereich der Künstlichen Intelligenz sind die Bemühungen Frankreichs, die führende KI-Nation in der EU zu werden, deutlich sichtbarer und nachhaltiger als bei seinem Nachbarn. Daher gewinnt Frankreich diesen Standortvergleich – Stand heute – mit 5:1.
Die Gründe liegen auf der Hand:
- Die 109 Mrd. Euro, hinter denen sich nach aktuellem Stand konkrete Investitionszusagen verbergen, waren ein Meilenstein in einem nachdrücklichen Bemühen, den Rückstand zu den führenden KI-Nationen aufzuholen.
- Mit Mistral besitzt Frankreich ein LLM-Unternehmen mit einer Milliarden-Bewertung und verfügt damit in der EU über ein Alleinstellungsmerkmal.
- Der Aufbau von weiteren Rechenzentren findet in beiden Ländern mit Nachdruck statt, wobei in Frankreich die politische Unterstützung stärker ist.
- Günstigere Stromtarife und das große Angebot an dekarbonisierter Energie werden von Frankreich immer wieder mit Nachdruck dargestellt.
Der Bau der 35 neuen Rechenzentren in Frankreich folgt dabei auch einer nationalen Industriepolitik, da diese vornehmlich in Regionen errichtet werden, die sich bei der Verteilung des BIP unterhalb des EU-Durchschnitts befinden (z.B. in der Region „Grand Est“, welche an Deutschland grenzt).
Eine nationale KI-Strategie ist dagegen in Deutschland nicht wirklich erkennbar. Im politischen Tagesgeschäft spielen bei den beiden Regierungsfraktionen andere Themen eine deutlich größere Rolle. Nichtsdestotrotz ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands so hoch, dass über private Investitionen die KI nach vorne entwickelt werden kann. Mein Favorit wäre mit Blick auf den Aufholbedarf eine Bündelung europäischer Kräfte, wie dies in der Vergangenheit in anderen Bereichen mit großem Erfolg umgesetzt wurde, bspw. beim Airbus-Konsortium.
Titelbild: Generiert mit ChatGPT